Samstag, 8. April 2017

Frühling der Wissenschaft

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche, so ruft Faust in seinem Osterspaziergang. Wenn ich heute aus dem Fenster schaue, ist es zwar ziemlich grau und kalt, die letzten Wochen konnten wir aber schon angenehme Frühlings- bis Frühsommertage genießen, mit Temperaturen deutlich über 20 Grad. In anderen Weltgegenden ist es nicht der Osterspaziergang, sondern das Kirschblütenfest, dass die Menschen nach draußen in die Sonne lockt. Der Economist hat gerade eine wunderhübsche und gleichzeitig erschreckende Grafik veröffentlicht, auf der er den Zeitpunkt des Kirschblütenfest in den letzten 1200 Jahren in Japan nachzeichnet. So weit reichen dort die Aufzeichnungen zurück. Und was man sieht, ist das dieser Zeitpunkt im letzten Jahrhundert immer weiter nach vorne gerückt ist, der Klimawandel lässt grüßen.

Wie gesagt, die Grafik ist bezaubernd, und das bringt mich zur jährlichen Verleihung der besten Infografiken, die in diesem Artikel kurz skizziert wird. Es gibt auch einen Preisträger aus Deutschland dabei, aber insgesamt muss man doch sagen, dass anderenorts die hohe Kunst der Infografik stärker gelebt wird als hierzulande. Dabei sind Infografiken ein wunderbarer Weg, Daten und Informationen an Lieschen Müller zu bringen. Wissenschaftskommunikation und Design, Hand in Hand. Brauchen wir nicht mehr davon, angesichts der Herausforderungen, denen sich die Wissenschaft gegenüber sieht? Angesichts des Sperrfeuers, das jetzt aus Washington kommt? Naja, die Infografik wird die Wissenschaft nicht retten, sie dient mir aber als Überleitung zu einem weiteren Thema, dass mich zur Zeit beschäftigt.

Wissenschaft ist unter Druck, und jetzt schlägt die Wissenschaft zurück, spätestens im Mai werden sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf den Straßen der Metropolen dieser Welt vereinen zum march for science.

Das Thema hat interessante Debatten angestoßen, auch in Deutschland sind einige spannende Beiträge dazu erschienen. Lesenswert fand ich z.b. den Beitrag von Herrn Schneidewind, den Chef des Wuppertal Instituts, der auf die enge Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft hinwies. Wissenschaft können sich nicht auf ihre neutrale Rolle als Beobachter und Erklärer der Welt zurückziehen. Wissenschaft handle nicht nur von objektiven Fakten, nein sie beeinflusse mit werthaltigen Aussagen auch die Gesellschaft und werde ihrerseits von der Gesellschaft beeinflusst. In diesem Sinne ist es wohl normal, dass sie auch Teil gesellschaftlicher Konflikte wird, wie wir es zur Zeit in den USA segen. Also kein Fundamentalangriff auf die Wissenschaft?

Lesenswert fand ich ebenfalls den Beitrag von Peter Weingart, der sich wissenschaftstheoretisch mit der Beziehung zwischen Wissenschaft und Wahrheit auseinandersetzt und auf die Theorien des Konstruktivismus und des Paradigmenwechsels  verweist. Während der Konstruktivismus - stark vereinfacht und verkürzt gesagt - davon ausgeht, dass Erkenntnis immer nur ein temporäres soziales Konstrukt ist, also subjektiv eine Theorie von der Welt schafft, beschreibt die Theorie von Paradigmenwechsel wissenschaftliche Erkenntnisse als temporäre Übereinkünfte von Wissenschaftscommunitys über ihre gemeinsame Sicht der Welt, die in Phasen des Paradigmenwechsels in sehr kurzer Zeit in Frage gestellt und durch neue Theorien über die Welt ersetzt werden.

Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie der Laiensicht auf Wissenschaft widersprechen, die eher davon ausgeht dass Wissenschaft tatsächlich absolute, ewig gültige Wahrheiten entdeckt. Ist der Konstruktivismus damit der Wegbereiter von alternativen Fakten, da ja sowieso jede wissenschaftliche Aussagen nur ein zeitlich befristetes Konstrukt ist?

Natürlich nicht. Und um an einem Beispiel deutlich zu machen, wie segensreich und erhellend es manchmal sein kann, jenseits von scheinbar allseits geteilten Überzeugungen auf die Fakten zu prüfen und bestimmte Gemeinplätze in Frage zu stellen, hier noch die Empfehlung auf einen Artikel, der deutlich macht, dass die Osterweiterung der EU keineswegs dazu geführt hat, dass die Entscheidungsfindung im Europäischen Rat schwieriger wurde, Gesetzgebungsverfahren länger dauerten oder dass die osteuropäischen Neumitglieder als Block am laufenden Band Entscheidungen der Altmitglieder torpedierten. Und das ist nicht nur interessant zu erfahren, das ist möglicherweise auch entscheidungsrelevant, wenn es darum geht, ob die EU offen bleibt für Neumitglieder.

Nicht nur die Klimaforschung, auch die Sozialwissenschaften können also manchmal eine wichtige Rolle spielen und zu besserem politischen Handeln beitragen. In diesem Sinne dann doch "raus auf die Straßen, Ihr Freunde der Wissenschaft, zum march for science. Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen