Chinas wachsende Rolle in allen möglichen Politikfeldern macht das Land zu einem fabelhaften Themen-Joker, der fast immer gezogen werden kann. So auch beim Thema Reallabore, dass in Deutschland zunehmend Fahrt aufnimmt.
Hierzu bin ich vor ein paar Tagen über eine Veröffentlichungen der deutsch-chinesischen Plattform Innovation gestolpert. Diese Plattform wurde vor einigen Jahren vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingerichtet, um den deutsch-chinesischen Austausch zum Thema innovationen zu stärken und für die deutsche Seite einen breiteren Einblick in die Entwicklungsprozesse des chinesischen Innovationssystems zu ermöglichen.
Die Plattform veröffentlicht in sogenannten Policy Briefs Artikel über das chinesische innovationssystem und seine Relevanz für Deutschland. Prof. Markus Taube schreibt in der letzten Ausgabe über experimentelle Freiräume in neuen Technologiefeldern, die der chinesische Staat den Unternehmen immer wieder einräumt, um ihnen eine schnellere Entwicklung als der internationalen Konkurrenz zu ermöglichen. Das ganze funktioniert nach Ansicht von Prof. Taube nur deshalb, weil es einen breiten Grundkonsens der Machtelite in Politik und Wirtschaft gibt, der den temporären Kontrollverlust absichert.
Wenn ich das richtig verstanden habe, ist ein wichtiges Charakteristikum dieses Systems auch, dass die Freiräume nicht gleichermaßen und rechtlich abgesichert allen Akteuren gewährt werden, sondern durch einen jederzeit widerrufbaren Willkürakt des Staates entstehen. Sie unterstreichen die absolute Macht der kommunistischen Parteiherrschaft. Manchmal wird einfach gezielt nicht reguliert, manchmal werden Gesetzesverletzungen stillschweigend toleriert und nachträglich legitimiert. Taube nennt das eine erfolgreiche Guerilla-Strategie des chinesischen Staates.
Solcherlei temporäre, quasi rechtsfreie Räume sind in den westlichen Demokratien unvorstellbar. Hier werden vergleichbare Freiräume nur in sehr eng definierten und streng kontrollieren Rahmen gewährt, z.B. als sogenannte "regulative sandboxes", sozusagen Spielplätze für neue Technologien, zum Thema Fintech in Großbritannien. Hier wurden Startups Möglichkeiten gegeben, über bestehende Regulierungen hinaus neue Dienstleistungen zu entwickeln, allerdings immer sehr eng begleitet von einem Vertreter einer Aufsichtsbehörde, und immer mit dem Ziel, in absehbarer Zeit wieder regelkonform zu arbeiten. Auch Österreich wagt sich 2019 an regulative Sandboxes für FinTechs.
Die deutsche Bundesregierung sucht noch den richtigen Weg für Reallabor und Experimentierräume. Im Moment lässt das Bundeswirtschaftsministerium einen Leitfaden erarbeiten, wie solche Reallabore in Zukunft schneller eingerichtet werden könnten. Ein gerade erschienener Artikel des BMWi skizziert den aktuellen Stand: das BMWi hat eine interministerielle Abeitsgruppe initiiert, um die Strategien der verschiedenen Ministerien zusammenzuführen, geplant ist auch ein Netzwerk zum Thema sowie Wettbewerbe, um zukünftige Reallabore zu unterstützen. Das Ministerium verweist aber auch mit Nachdruck darauf, dass es nicht darum gehen kann, Rechtsschutz abzubauen oder Unsicherheit zu vergrößern. Gerade das kontrollierte Vorgehen, z.B. durch zeitlich begrenzte Öffnungsklauseln, ermögliche es, Veränderungsbedarf auf Regulierungsebene für Innovationen zu testen, ohne dafür z.B. die Sicherheit der Bevölkerung zu gefährden.
Die Strategien Chinas und der westlichen Industriestaaten unterscheiden sich hier also fundamental. Manchmal allerdings liebäugelt doch der ein oder andere Politiker damit, mal nicht alles so streng zu sehen und zugunsten von Digitalisierung und Innovation über einige aus seiner Sicht nebensächliche Regelungen hinwegzugehen. Mehr Shenzhen kann man auch so interpretieren.
Ob allerdings die Vorgaben zu Energieeffizienz die Einrichtung von Co-working spaces verhindern, wie dort angeführt, scheint mir eher eine gewagte These. Digital first, Bedenken second, das kann man auch als naive Vereinfachung der wichtigen Rolle von Regulierung verstehen.