Nach der Europawahl und dem Gerangel um den neuen Kommissionspräsidenten scheint das Interesse in Deutschland an Europa deutlich gesunken zu sein. Zumindest ignoriert (wie der
Bogbeitrag bei Wissensküche zeigt) die deutsche Medienlandschaft weitgehend die aktuelle Auseinandersetzung um die Nachfolge der Chief Scientific Adviser Anne Glover, die bislang den scheidenden Kommissionspräsidenten Barroso beriet. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Deutschland (wie übrigens fast alle Länder Kontinentaleuropas) das angelsächsische System eines Chief Scientific Advisers nicht kennt und stattdessen auf Akademien und spezifische Beratungsgremien setzt. Für das Thema Innovationspolitik z.B. gibt es die
Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), die
Forschungsunion und den
Innovationsdialog. Vielleicht liegt es auch daran, dass Barroso bislang in Deutschland nicht als kraftvoller Kommissionspräsident wahrgenommen wurde.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland kein besonders konfliktreiches Thema ist. Laut einer diesen Sommer veröffentlichten
Umfrage von Wissenschaft im Dialog wird die Bedeutung und der Nutzen von Wissenschaft und Forschung für die Gesellschaft in Deutschland von einer großen Mehrheit der Befragten als hoch eingeschätzt. Allerdings ist der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik für die Mehrheit der Befragten zu gering, knapp die Hälfte wünscht sich, dass die Öffentlichkeit stärker in Entscheidungen über Wissenschaft und Forschung einbezogen wird. Das spricht ja eigentlich für mehr wissenschaftliche Politikberatung.
Wie dem auch sei, Anne Glover ist auf jeden Fall in die Schusslinie der Kritik geraten, zumindest in de Schusslinie einiger NGOs. Vordergründig geht es um die Intransparenz ihrer Beratung und den fehlenden Einfluss anderer gesellschaftlicher Kräfte, hintergründig möglicher Weise auch um ihre Haltung zu genmanipulierten Organismen. Der nachfolgende
Artikel bringt die Diskussion um Anne Glover ganz gut auf den Punkt.
Das Thema sollte eigentlich auch in Deutschland interessieren, denn die EU wird in allen Politikbereichen immer wichtiger, und damit auch die Entscheidungsgrundlage europäischer Institutionen relevant. Im Sinne einer evidence based policy sollte eine fundierte wissenschaftliche Politikberatung hier eine wichtige Rolle spielen. Und das tut sie im Prinzip natürlich auch. Eine breite Landschaft an Beratungsgremien mit wissenschaftlichen Mitgliedern unterstützt die Generaldirektionen des Kommission und das Parlament, mit dem
IPTS hält sich die Kommission ein eigen4es Think Tank. Aber Wissenschaft ist nur ein Einflussfaktor in der Entscheidungsfindung. Dazu kommt die noch breitere Landschaft an Interessensgruppen, Lobbyvertretern und NGOs, die ihrerseits Vorschläge aufgrund eigener wissenschaftlicher Studien und Experten machen.
Europa ist also ein gutes Beispiel für den sich ändernden öffentlichen Diskurs über Politik, in dem auch Wissenschaft eine andere Rolle spielt, stärker Partei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird und sich dieser veränderten Rolle anpassen muss. Schön herausgearbeitet hat diesen Wandel die niederländische Rathenau-Stiftung in ihrem Bericht zu "
Contested Science".
Noch komplexer wird das ganze dann bei Herausforderungen, deren Lösung internationale Zusammenarbeit erfordern. Hier ist neben einer engeren Abstimmung der entsprechenden Regierungen wohl auch eine engere Kooperation der wissenschaftlichen Berater notwendig. Mittlerweile existiert hierfür ja ein enges Geflecht an Institutionen wie das
Global Science Forum der OECD oder der
International Council for Science, das stetig erweitert wird. Hier wird auch Ende August eine
Konferenz in Auckland zum Thema Wissenschaftliche Politikberatung mit beitragen. In diesen Gremien wird die veränderte Rolle von wissenschaftlicher Politikberatung zurzeit intensiv diskutiert, das Global Science Forum widmet sich in einem aktuellen Projekt z.B. " on Scientific advice for policymaking, and the consequences on the role and responsibility of scientists".
Genug Grund also, auch in Deutschland die Diskussion um Anne Glover nicht aus dem Blick zu verlieren.
P.S. hier noch
der Link zu einem interessanten Dossier von EURACTIVE, in dem die Überarbeitung der Impact Assessment Leitlinien der EU Kommission vorgestellt wird - ein zentraler Ort, an dem tatsächlich wissenschaftliche Politikberatung mit weitreichenden Folgen stattfindet
P.P.S. und hier noch der
Link auf einen sehr lesenswerten, aktuellen Artikel im Guardian, der auf die Situation in Japan (sinkendes Vertrauen in Wissenschaft nach Fukushima) und auf das oben genannte Projekt des Global Science Forum Bezug nimmt