Gerade lese ich das neue Buch von Julian Barnes ("Der Lärm der Zeit") über Schostakowitsch und den Stalinismus. Ich finde es faszinierend und erschreckend, wie ein totalitäres Regime tatsächlich totalitär, also alle Lebensbereiche umfassend bestimmt. Ich hatte schon vor einigen Jahren eine Biografie über Schostakowitsch gelesen und zwar "Stalin und Schostakowitsch" von Solomon Wolkow. Ich konnte es damals kaum fassen, dass Musik, eine der abstraktesten Ausdrucksformen, so politische sein soll, dass sie Menschen das Leben kostet. Bei der Lektüre von Barnes überkam mich nun die Analogie zur aktuellen Diskussion um die Wissenschaft, die auch unerwarteterweise ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung geraten ist.
Klar ist mir soweit, dass Musik ein höchst identitätsstiftendes, soziale Gruppen integrierendes (bzw. auch ausgrenzendes) Moment hat, das manche Gruppen erst definiert, wie ein kurzer Blick auf Jugendkulturen zeigt. Rocker, Teds oder Punks sind ja quasi synonym zu ihrer Musik. Und vor 50 Jahren oder noch weiter zurück war eben die Klassik eine ähnlich identitätsstiftende Musikgattung. Vor 2-3 Jahren war ich in einer szenischen Aufführungdes sogenannten Watschenkonzerts, in dem das Wiener Bürgertum Arnold Schönberg und seinen Schülern ziemlich deutlich zeigte, wo der Hammer hängt. Ein echter gesellschaftlicher Skandal. Gleichzeitig bleibt Musik abstrakt. Eine Sinfonie ist eine Sinfonie, und kein Buch über ein Thema. Ich kann lautmalerisch Regen darstellen, oder spielende Katzen, der Karneval der Tiere malt gleich eine ganze Menagerie. Aber politische Statements drücken Musik doch eigentlich nicht aus. Oder?
Zurück zu Schostakowitsch. Beim Lesen des erwähnten Buchs musste ich an die aktuelle Diskussion um die Rolle von Wissenschaft denken. Wissenschaft, die auch für sich in Anspruch nimmt, unpolitisch zu sein, weil sie sich ja mit objektiven Fakten beschäftigt. Da mögen die Sozialwissenschaften politischen Lagern sehr nahe sein, aber wenigstens die Naturwissenschaften sind doch Politik frei, oder? Stattdessen das Entsetzen der Wissenschaft, plötzlich auf eine vermeintlich breite gesellschaftliche Ablehnung zu stoßen und von Politikern wie der aktuellen amerikanischen Regierung - zumindest in der eigenen Wahrnehmung - schikaniert und degradiert zu werden.
Bevor ich aber zum Zeitalter des Postfaktischen komme, muss ich doch noch einmal zurückgehen in die Zeit des Stalinismus. Nicht nur Schostakowitsch lit an dem totalitären Anspruch der sozialistischen Regierung, auch die Wissenschaft musste sich der absoluten Deutungshoheit des Staates beugen, wie die abstruse Geschichte des Lyssenkoismus zeigt.
Sicher hinkt der Vergleich ziemlich, aber bis zu einem gewissen Grad kommen sich heutige amerikanische Wissenschaftler ähnlich vor, wenn der Klimawandel geleugnet wird, um handfesten wirtschaftlichen Interessen zu entsprechen. Oder wenn der Kreationismus fröhliche Urstände feiert. Allerdings hat sich mittlerweile Widerstand formiert, der March of Science wird zeigen, wie breit dieser Widerstand mittlerweile ist. Im Deutschlandfunk gab es gerade eine interessante Sendung darüber, wie sich die Wissenschaft gegen das Postfaktische wehrt.
Hinter dieser Schale von Interessen und Intrigen, die in der Sowjetunion der 40er Jahre nicht anders war als im Amerika der 2010er Jahre, liegt aber eine zweite Schicht, bei der es stärker um soziale Identifikationen geht, und hier liegt für mich die Analogie zum Drama um Schostakowitsch.
So wie diesem seiner Nähe zum intellektuellen Bürgertum fast zum Verhängnis wurde, die aus seinem musikalischen Werk sprach, so leidet die Wissenschaft heute daran, das sie von gewissen sozialen Schichten als Komplize der Macht wahrgenommen wird. Populistische Kräfte unterstellen der Wissenschaft, nur Erfüllungsgehilfe der aktuell Herrschenden zu sein. Und wenn man diese bekämpfen möchte, so muss man halt auch den Deutungsanspruch der Wissenschaft in Frage stellen. Aus einer ähnlichen Quelle speist sich die Ablehnung gegenüber der europäischen Politik, die pauschal als technokratisch verdammt wird. Oder das Unbehagen gegenüber der Bundesregierung, wenn sie bestimmte Entscheidungen (Griechenland ...) als alternativlos bezeichnet. Kann eine rationale, evidenzbasierte Politik, die sich auf wissenschaftliche Politikberatung stützt, falsch sein? Kann die Wissenschaft zum Komplizen einer herrschenden Elite werden?
Nein, ich halte das für ein Zerrbild, das seinerseits instrumentalisiert wird von den Lautsprechern eines Populismus, die selbst nur ihren Weg an die Macht finden wollen. Aber es ist höchst gefährlich, wenn so wissenschaftliche Erkenntnis negiert wird und Entscheidungen objektiv falsch getroffen werden. Wenn die Politik sich davon verabschiedet, etwas gegen den Klimawandel zu machen. Da ist möglicherweise ziviler Widerstand gefragt. Und die ersten Whistleblower aus der Wissenschaft sind ja schon aktiv, um weiterhin Klimadaten an die Öffentlichkeit weiterzugeben.
Zuletzt aber noch etwas versöhnliches. Am Ende hat es Shostakovich trotz aller widrigen Umstände geschafft, wunderschöne Musik zu schreiben: David Oistrakh spielt das erste Violinkonzert, und hier spielt Schostakowitsch selbst sein Klavierkonzert.