Neben Gemeinplätzen wie deutscher Gemütlichkeit oder dem deutschen Wald nimmt die deutsche Mittelschicht einen herausragenden Platz im Selbstverständnis dieser Nation ein. Gestern las ich in einem Feuilleton-Artikel der Süddeutschen Zeitung (hier, allerdings hinter der Bezahlschranke) eine erfrischende Dekonstruktion dieses Mythos.
Der Soziologe Stephan Lessenich skizzierte im Interview, wie gemütlich sich die Mittelschicht seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts im deutschen Sozialstaat eingenistet hat und diese Position durch Abschließungstendenzen gegenüber anderen sozialen Milieus verteidigt. Die Mittelschicht ist wirtschaftlich privilegiert, und sie nimmt für sich politisch in Anspruch, die Leitlinien der deutschen Politik wesentlich zu gestalten.
Ängste um die Auflösung der Mittelschicht hält Lessenich im Wesentlichen für eine Fantasie. Die Mittelschicht habe seit fast 70 Jahren die Erfahrung gemacht, dass es immer bergauf gehe, dass ihnen das Wirtschaftswachstum der Republik zugutekomme, sie ihren Wohlstand auch an ihre Kinder und Enkel vererben können und dass sie das gesellschaftliche und politische Leben dominieren.
Nun droht angesichts säkulare Stagnation ein Ende dieses Dauerwachstums, und der technologische Fortschritt schafft neue Unübersichtlichkeiten und schwer planbare Karrierepfade für die Kinder, die neuen Reichen der digitalen Revolution machen zudem den Mittelstand den Thron als Regent dieser Gesellschaft streitig.
Ein vergleichbarer Mythos wie die deutsche Mittelschicht ist meiner Meinung nach der deutsche Mittelstand. Stütze der Wirtschaft und Garant für Wachstum und Wohlstand, ist er sicher der meistgenannte Akteur des deutschen Wirtschaftsystems.
Im Vergleich zu KMU anderer Länder soll er besonders innovativ sein. Im Vergleich zu Großunternehmen soll er besonders flexibel und agil sein. Natürlich setzt er nicht auf Shareholder-Value, sondern denkt langfristig und strategisch. Und schließlich kümmert er sich fürsorglich um seine Mitarbeiter.
Das alles trifft aber letztlich bloß für einem kleinen Teil dieser heterogenen Gruppe der Unternehmen zu. Die sogenannten hidden champions zum Beispiel sind tatsächlich besonders innovativ und erfolgreich. Im Mittelstand insgesamt geht die Innovationsleistung seit vielen Jahren zurück, und es dominieren im deutschen Innovationssystem eigentlich die große Unternehmen. Ob der deutsche Mittelstand tatsächlich so flexibel und anpassungsfähig ist, daran lassen die besorgniserregenden Berichte um die Unfähigkeit, den Trend Digitalisierung schnell und effizient umzusetzen, doch ein wenig zweifeln.
Mit der Mittelschicht gemeinsam hat der Mittelstand die erfolgreiche Strategie der Abschließung gegenüber anderen Gruppen. Die aktuelle Diskussion um die Erbschaftsteuer macht dies noch einmal deutlich. Auch im Forschungsförderungssystem der Bundesrepublik hat es der Mittelstand geschafft, sich als einzig wahrer Fördermittelempfänger zu stilisieren. Zwar gehen auch Fördermittel an Großunternehmen, das schlechte Gewissen ist aber gar groß dabei.
Klar, eine starke Mittelschicht und ein starke Mittelstand klingt gut, aber ein wenig Skepsis gegenüber einer ausufernden Idealisierung dieser sozialen Konstruktionen ist schon angebracht.
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