Vor etwa einem halben Jahr hat der Berliner Soziologie Professor Steffen Mau sein Buch "Das metrische Wir" veröffentlicht und damit ein nicht unerhebliches Medienecho ausgelöst. Nachdem ich durch ein Podcast-Beitrag erst kürzlich wieder darüber gestolpert bin, habe ich es nun auch selbst gelesen. Es geht darin um die Quantifizierung sämtlicher Bereiche des Lebens, vom Uni-Ranking über die Bewertungsplattform für Ärzte, von der Benotung des ebay-Verkäufers bis hin zur individuellen Datenerhebung - im wörtlichen Sinne Schritt für Schritt. Für Mau wird dadurch quantifiziert, was früher nur qualitativ beschrieben wurde, alles wird in einen Ranking einsortiert und als besser oder schlechter bewertet. Zudem werden die Daten verkauft und zusammengeführt, über uns alle wird ein in seinen feinen Verästelungen und Details kaum mehr Lücken aufweisende Netz von Daten geworfen, dass uns in allen Aspekten ebenfalls bewertbar macht und mit dem wir von allen möglichen Akteuren in Zukunft bewertet werden.
Die Beispiele, die Mau bringt, sind in ihrer Fülle und Verschiedenheit zunächst ziemlich bestechend und erschlagen. Allerdings wird mir nicht immer ganz klar, wo es sich um ein bereits breit durchgesetztes Phänomen handelt und wo Mau ganz einfach die Geschichte eines kleinen Startups nacherzählt, dass eine neue Idee hat, ohne sicher zu sein, dass diese irgendwann tatsächlich einen breiten Markt erreicht.
Auch bin ich mir nicht immer sicher, ob dieses Szenario, dass Mau beschreibt, tatsächlich so neu ist im Gegensatz zur guten alten Welt, in der wir ebenfalls sozialer Kontrolle ausgesetzt und im ständigen Wettbewerb mit unseren lieben Mitmenschen waren. Gibt es dieses individuelle Streben nach Aufstieg im sozialen Gefüge nicht auch jetzt schon, ohne Hilfe von neuen Daten?
Pierre Bourdieu, über den es kürzlich übrigens auch einen schönen zusammenfassenden Podcast-Beitrag gab, hat das in seinem Klassiker von den feinen Unterschieden sehr schön geschrieben. Soziales oder symbolisches Kapital kann man auf sehr unterschiedliche Weise anrufen und mit sehr diskreten Botschaften auch seiner Umwelt anzeigen.
Auch die Ungleichheiten in der sozialen Klassen und Gruppen, die sich nach Mau nun Stück für Stück auflösen und sich in individuellen Ungleichheiten jedes Einzelnen verwandeln, sind möglicherweise nicht neu und nicht wirklich schlimmer als der Status Quo Ante. Auch in der alten, analogen Welt waren die Beispiele ungezählt, die Diskriminierung aufgrund bestimmter Merkmale und Gruppenzugehörigkeiten belegten. Der ausländisch klingende Namen, der die Wohnungs- oder Arbeitssuche erschwert, der Bildungshintergrund der Eltern, der schlechtere Schulnoten mit sich bringt, oder einfach nur die fehlenden Tischmanieren, die den Aufstieg zur Führungskraft unwahrscheinlich machen.
Zumindest diese Diskriminierung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit wird durch das metrische Wir in Teilen aufgelöst oder zumindest verringert, und das kann für den ein oder anderen durchaus ein Segen sein. Die Versprechungen der Moderne, der Großstadt ist ja auch, seinen sozialen Hintergrund zurückzulassen und ganz neu zu beginnen, sich durch Leistung den sozialen Aufstieg selbst zu erarbeiten.
Ein weiterer Kritikpunkt von Mau ist aus meiner Sicht ebenfalls zu diskutieren. Handelt es sich beim metrischen Wir tatsächlich um eine Aufkündigung der Solidargemeinschaft oder eher doch eher um den zunehmenden Druck, "sozial schädigendes" Verhalten zu sanktionieren. Wer risikobereit fährt, könnte tatsächlich Kosten für die Allgemeinheit verursachen. Immer weniger toleriert wird also ein Verhalten, das einen selbst in Gefahr bringt. Und außerdem wird die Gesellschaft insgesamt immer risikoaverser.
Ein weiterer Aspekt, der von Mau nur am Rande angesprochen wird, ist der geradezu unbegrenzte Erfindungsreichtum des Menschen, wenn es darum geht, soziale Regeln und Kontrolle zu "optimieren", um gut dazustehen. Auch für ein metrisches Wir dürfte es vielfältige Möglichkeiten der Manipulation und damit Optimierung der Daten geben, um den eigenen Score zu verbessern. Solche Effekte werden übrigens auch aus China beschrieben, dessen Social Scoring System von Mau gleich in der Einleitung seines Buches als Schreckgespenst herhalten muss, dass dystopisch unsere nahe Zukunft beschreibt.
Ein interessanter Moment in Maus Argumentation kommt immer dann, wenn er mit seiner ebenfalls auf quantitativen Daten basierenden Rolle als Sozialwissenschaftler hadert. Auf Daten basierende Empirie ist schon gut, aber alles messen dann doch nicht, bzw kommerziellen Nutzen daraus ziehen auch nicht. Andererseits, in Zeiten des postfaktischen ist ein wenig datenbasierte Empirie doch ganz dankbar.
Ein wenig kommt mir diese Ambivalenz aus den Diskussionen innerhalb der Evaluations-Community bekannt vor. Dort wird immer wieder diskutiert, ob wir alles messen müssen, ob wir immer Kontrollgruppen-Daten brauchen und am besten mit ökonometrischen Methoden zu einer Zahl als Ergebnis kommen. Oder ist es besser, zu verstehen, was eigentlich passiert, dies mit Fallstudien oder mit anderen qualitativen Zugängen aufzuarbeiten und ein Gefühl dafür zu entwickeln, warum etwas so ist, wie es ist. Und letztlich ist die Umfrage, die Befragung von Zielgruppen auch ein geschickter Weg, um aus qualitativen, ganz subjektiven Einschätzungen zu quantitativen Daten zu kommen, die die Auftraggeber so gerne sehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen