These 1: Sie spielt im Grundsatz in Deutschland die selbe Rolle wie in anderen modernen Gesellschaften
In den Medien liest man aktuell manchmal, dass Deutschland mit seiner Kanzlerin, die in ihrem Leben vor der Politik Wissenschaftlerin gewesen sei, besonderes Glück habe. Eine rationale Politik, die ein offenes Ohr für wissenschaftliche Politikberatung habe, sei eine Folge davon, und dies sei gerade in den Zeiten der Corona-Pandemie besonders wichtig. Andererseits beziehen sich Analysen, warum Deutschland möglicherweise besser als andere Länder durch die Krise gekommen ist, weniger auf die hohe Qualität der deutschen Politikberatung, als vielmehr auf die guten Testkapazitäten, das gut ausgebaute Gesundheitssystem mit vielen Intensivbetten sowie auf das Glück, erst nach Italien und Frankreich in die Krise geraten zu sein und etwas mehr Zeit für die Vorbereitung und die Einstimmung der Bevölkerung auf die kommenden Wochen gehabt zu haben. Das soll nicht heißen, dass die Politikberatung in Deutschland schlechter als in anderen Ländern gewesen wäre, aber auch nicht unbedingt besser. Die Systeme sind eben sehr unterschiedlich, in manchen Ländern gibt es so etwas wie einen Chief Scientist, einen Chefberater der Regierung, in anderen spielen Akademien eine große Rolle, oder auch unabhängige Institute. Wenn die Regierungen mancher großer Staaten außerhalb Europas nicht oder zu spät auf die Beratung gehört haben, so lag das in der Regel nicht an schlechtem Ratschlag selbst, sondern eher an unfähigen Regierungen. Auch Großbritannien, das heute in Europa vielleicht am meisten in der Corona-Krise feststeckt, hat vermutlich noch Glück gehabt und ist gerade wegen ausgezeichnete wissenschaftlicher Politikberatung, hier der Intervention durch das Imperial College und seine Studie, und einer einsichtigen und lernfähigen Regierung einer schlimmeren Katastrophe entgangen.
Ich denke, das moderne Wissensgesellschaften mit einem differenzierten Wissenschaftssystem und internationaler Vernetzung (und damit Zugang zu wissenschaftlicher Expertise weltweit) in vergleichbaren Situationen alle auf möglichst vielen wissenschaftliche Expertise zugreifen wollen, um gute politische Entscheidung zu treffen. Möglicherweise helfen Meinungsfreiheit und Demokratie dann, ein möglichst breites Angebot an unterschiedlicher Expertise (die sich auch nicht immer einig sein muss) zu nutzen und die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Schließlich ist ein Vorteil der Demokratie ja, auf dem offenen Markt der Meinungsäußerungen eine bessere informationsverarbeitung und Lernfähigkeit zu bieten, auch wenn die Entscheidungsfindung mühsamer und langsamer ist als in nicht demokratischen Systemen. In einer Pandemie-Situation kann Geschwindigkeit allerdings entscheidend sein. Daher tendieren wohl auch Demokratien in solchen Stresssituationen dazu, Pluralität und konflikthaften Diskus zu minimieren, und sei es mit Verweis auf scheinbar objektive wissenschaftliche Entscheidungsgrundlagen. Wie wir alle an der aktuell dann doch sehr lebhaften Diskussion sehen, ist das allerdings nur in sehr kleinen Zeitfenstern möglich - und das ist vermutlich auch gut so (auch wenn die Autorität zentraler wissenschaftlicher Beratungsgremien vielleicht nicht mutwillig durch Oppositionspolitiker zerstört werden sollte).
These 2: Die wissenschaftliche Politikberatung ist weit weniger orchestriert und homogen als gedacht
Unser Blick auf Politik und auf Politikberatung ist in der Regel ein eher eingeschränkter und schematischer, der weniger prominente Akteure ins Auge nimmt, die im Mittelpunkt der Medienberichterstattung stehen. Tatsächlich aber ist die Politik deutlich differenzierter, Entscheidungen werden auf den unterschiedlichsten Ebenen in Ministerien und Fraktionen vorbereitet und diskutiert, dabei fließen neben dem Ratschlag der offiziell zuständigen Gremien (wie dem aus der Tagesschau bekannten Robert-Koch-Institut) natürlich auch Meinungsäußerungen anderer Expertinnen und Experten ein. Allein die etwas breiter diskutierten Gutachten, Studien und Meinungsäußerungen zu Corona in den letzten Wochen sind ziemlich zahlreich und heterogen. es gibt das Gutachten der Leopoldina, es gibt den Expertenrat des Landes Nordrhein-Westfalen, es gibt eine Studie der Helmholtz-Gesellschaft, ein gemeinsames Papier der großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und so weiter. Und entgegen der Kritik manche Kommentatoren oder Politiker sind in diesen verschiedenen Gremien sehr unterschiedliche Disziplinen versammelt gewesen. Es waren nicht nur die Virologen, deren Meinung für die Entscheidung der Politik ausschlaggebend war. Möglicherweise war das ein oder andere Gremium nicht besonders divers zusammengesetzt, wie die Diskussion um die Leopoldina und ihr Gutachten zeigt, dass insbesondere von älteren Männern geschrieben wurde. Aber natürlich kamen auch andere Gruppen zu Wort.
These 3: Mindestens genau so wichtig wie die Politik ist die Gesellschaft als Adressat der wissenschaftlichen Politikberatung
Interessant in der aktuellen Krise ist auch, welche Präsens wissenschaftliche Expertise plötzlich in der allgemeinen Mediendiskussion hatte, wie Personen wie Professor Drosten z.B. plötzlich zu Medienstars werden konnten mit ihrem Podcast. Mittlerweile könnte ich zuhause ein ganzes digital-virtuelles Erstsemester in den unterschiedlichsten Fächern absolvieren, wenn ich Zeit hätte, die ganzen Podcasts in Wirtschaftswissenschaft, Virologie oder Soziologie zu hören. Insgesamt scheint das Vertrauen der deutschen Gesellschaft in die Wissenschaft hier auch in der aktuellen Krise ziemlich hoch zu sein, wie eine aktuelle Studie des Wissenschaftsbarometers zeigt. Allerdings sticht auch hier in Deutschland nicht in besonderem Maße international heraus. Allerdings glaube ich nicht, dass das weitgehend vernünftige Verhalten der Bevölkerung, die Regeln und Ratschläge der Politik zu Ende folgen und damit die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, auf tiefere wissenschaftliche Einsicht fußt. Ich glaube eher, dass das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an einer wissenschaftlichen Erklärung der Situation und der Ratschläge ein Gefühl der Sicherheit schaffte und ein Vertrauen daran, dass die zum Teil sehr harten Einschränkungen der Politik durchaus ihren Sinn haben. In diesem Sinne dürfte auch der Verweis der politischen Entscheidungsträger auf die wissenschaftliche Fundierung in Form der Politikberatung die Funktion gehabt haben, hier schnell einen breiten Konsens auch überdeutlich einschneidende Maßnahmen zu schaffen. Hier hat dann wissenschaftliche Politikberatung weniger den Zweck, zu guter Entscheidung zu führen (das natürlich auch), als vielmehr Vertrauen zu schaffen für schwierige Entscheidungen in sehr unsicheren Entscheidungssituationen. Denn auch die beste wissenschaftliche Politikberatung kann aktuell über viele Fragen noch keine gesicherte Auskunft geben. z.B. die Frage, ob Kinder nun in besonderem Maße für die Verbreitung des Virus verantwortlich sein könnten und damit Kita- und Schulschließungen zu rechtfertigen sind, oder ob Kinder eher weniger betroffen sind und damit schnell in Kitas und Schulen zurückkehren sollten. Und das ist dann eben Wissenschaft, das sieht auch die Kanzlerin so. Interessanter Weise scheint das die Bevölkerung auch nicht im Grundsatz zu beunruhigen, wenn Wissenschaft kontroversen austrägt. Wer mehr zur Wahrnehmung der Wissenschaft durch die Bevökerung in Zeiten von Corona erfahren möchte, dem empfehle ich abschließend dieses lesenswert Interview mit Rainer Bromme.
Update (4.5. abends): Nachdem mir die Ökonomen öffentlich ein wenig verschnupft schienen, dass sie nicht so omnipräsent wie die Virologen waren, zeigt sich, dass sie doch wohl sehr intensiv in die aktuelle Politikberatung eingebunden sind
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